Deutschland Digital 2030 - Von Dokumenten zu Daten, von Portalen zu Plattformen

Ein Beitrag von Marco Brunzel, Metropolregion Rhein-Neckar GmbH, Mannheim

Neue digitale Technologien verändern auch das Zusammenwirken von Wirtschaft und Verwaltung. Die Schaffung der bis Ende 2022 rechtlich vorgeschriebenen digitalen Zugangswege zur Verwaltung (i.S.d. Onlinezugangsgesetzes, OZG (1)) ist erst der Anfang. Perspektivisch wird sich der gesamte „Maschinenraum“ unserer föderal organisierten öffentlichen Verwaltung grundlegend verändern. Dabei kommen Plattform-Technologien, kooperativen Dateninfrastrukturen, sicheren digitalen Identitäten und KI eine herausragende Bedeutung zu. Die Konvergenz dieser bisher noch überwiegend getrennt betrachteten Entwicklungstrends wird eine neue Ära der Verwaltungsinformatik einleiten. Die Wirtschaft muss die spezifischen Besonderheiten der digitalen Transformation im öffentlichen Sektor verstehen, um diese aktiv fördern zu können.

Die Diskussion um die spezifischen Konzentrations- und Monopolisierungseffekte digitaler Plattformen lenkt mitunter von einer wertfreien Nutzenbetrachtung dieser relativ neuartigen technischen Artefakte und institutionellen Arrangements in Wirtschaft und Gesellschaft ab. Wir alle nutzen zunehmend digitale Plattformen, weil diese sowohl für Konsumenten als auch für Produzenten meist effizienter sind als frühere Formen der Allokation über klassische Marktmechanismen. Dies gilt insbesondere für vollständig digitale Güter sowie für Markt- und Organisationsprozesse, in denen es überwiegend um Informationsasymmetrien sowie Identitäts- und Vertrauensprozesse geht (Handel, Banken, Verwaltung).

Während auf der Grundlage datengetriebener und plattformbasierter Innovationen in fast allen Wirtschaftszweigen und Branchen weitreichende Transformationen längst voranschreiten, scheint der Staat und die öffentliche Verwaltung dagegen immun zu sein. Dabei verbinden sich mit diesen digitalen Innovationen gerade im öffentlichen Sektor gigantische Effizienz- und Gestaltungspotenziale. Um diese gezielt zu erschließen, müssen – im Gegensatz zur Wirtschaft – im öffentlichen Sektor entsprechende Entwicklungen jedoch aktiv geplant, gewollt, beschlossen und oft gegen erhebliche systembedingte Widerstände und Pfadabhängigkeiten durchgesetzt werden.

Digitaler Entwicklungsrückstand
Das arbeitsteilige Zusammenwirken von ca. 20.000 Verwaltungen unterschiedlicher föderaler Ebenen sowie einer Vielzahl über Staat und Verwaltung direkt oder indirekt gesteuerter öffentlicher Unternehmen und Institutionen bildet seit der Erfindung des modernen Staates vor gut 200 Jahren das wesentliche Fundament unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Wie in einem Betriebssystem sind hier die grundlegenden Werte und Prinzipien unseres freiheitlich-demokratischen und marktwirtschaftlich geprägten gesellschaftlichen Grundverständnisses implementiert. Die Anpassung dieses Gesamtsystems wird, vor dem Hintergrund sich verändernder technischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen (z. B. Erwartungshaltungen seitens der Bürger oder der Wirtschaft), überwiegend über politisch orches­trierte (Bundes-/Landesregierungen) sowie meist ressortbezogene „Updates“ ins Werk gesetzt (z. B. Gesetze, Förderprogramme, Konjunkturpakete). Da grundsätzliche Prinzipien dieses hyperkomplexen, arbeitsteiligen Systems eher selten in Frage gestellt werden, erklärt sich, warum Verwaltungsmodernisierung in Deutschland für so lange Zeit ein Dauerthema ohne signifikanten Fortschritt war. Bürger und Unternehmen haben sich vielfach damit abgefunden, dass sie es letztlich sogar sind, die das arbeitsteilige Zusammenwirken von Millionen von Zuständigkeiten auf der Basis einer noch größeren Zahl von Formularen und Bescheinigungen koordinieren.(2)

In diesem Sinne wirkt die Arbeit der AWV seit nunmehr 95 Jahren wie der Kampf Don Quijotes gegen die vielzitierten Windmühlen. Und gleiches ließe sich sicherlich für eine Vielzahl vergleichbarer Institutionen konstatieren.(3) Doch das Gefühl der Ohnmacht hilft uns bekanntlich gesamtgesellschaftlich nicht weiter. Insofern gilt es zu erkennen, dass in Summe die „behördlichen Windmühlen“ eben keine übermächtigen Riesen sind, sondern lediglich funktionale Bausteine einer Infrastruktur, deren Funktionsweise sich über ein entsprechendes Update unseres „gesellschaftlichen Betriebssystems“ durchaus beeinflussen und  verändern lässt.

Die Expertenkommission Forschung und Innovation (4) hat bereits vor einigen Jahren dazu den entscheidenden Weckruf ausgelöst, indem sie den digitalen Entwicklungsrückstand klar als erhebliches Risiko für den Wirtschaftsstandort Deutschland klassifizierte. Wir kennen alle die Studien, wonach die Bundesrepublik beispielsweise im EU-Vergleich vornehmlich hintere Ränge belegt. So stand Deutschland z. B. beim Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI) der EU-Kommission bei elektronischen Behördendiensten noch 2019 auf Platz 26 von 28.(5) Doch erfreulicherweise hat sich genau in diesem Handlungsfeld in den letzten Jahren etwas getan. Der im Jahre 2009 neu zum Grundgesetz hinzugefügte und inzwischen mehrfach geänderte Art. 91c GG ermöglicht heute grundsätzlich die Entwicklung, Erprobung und Implementierung gänzlich neuer Architekturen sowie Organisations- und Geschäftsmodelle in Bezug auf den informationstechnischen Verbund sämtlicher Verwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen.



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Bild: Pixels Hunter


1 IT-Planungsrat: Registermodernisierung, online: https://www.it-planungsrat.de/projekte/projekte-des-it-planungsrat/registermodernisierung (abgerufen am 26.07.2021).
2 Bayerisches Landesamt für Steuern: Vorausgefüllte Steuererklärung (Privatpersonen), online: https://www.elster.de/elsterweb/infoseite/belegabruf_(privatpersonen), (abgerufen am 26.07.2021).
3 Verordnung über Mitteilungen an die Finanzbehörden durch andere Behörden und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten (Mitteilungsverordnung) vom 7. September 1993 (BGBl. I S. 1554), die zuletzt durch Artikel 2 der Verordnung vom 12. Januar 2021 (BGBl. I S. 67) geändert worden ist.
4 § 3 Mitteilungsverordnung.
5 § 4a Mitteilungsverordnung.