Wie die Zukunft der Verwaltung schon heute gelingen kann

2021 ist das "Jahr der Umsetzung" für die deutsche Verwaltungsdigitalisierung, so nennt es zumindest das zuständige Bundesministerium des Innern. Insbesondere im Rahmen der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) und basierend auf den Vorarbeiten der letzten Jahre, sollen zahlreiche Verwaltungsleistungen schon in wenigen Monaten online verfügbar sein (1). Die digitale Baugenehmigung gehört zu diesen Leistungen, aber auch die Geburtsurkunde und das Führungszeugnis. Das Jahr der Umsetzung ist nötig, weil bereits Ende 2022 alle Verwaltungsleistungen in Deutschland online zugänglich sein sollen. Aktuell sind je nach Zählweise aber lediglich ein paar Prozent vollständig umgesetzt (2). Und: auch bei bereits verfügbaren Online-Diensten ist die Verbreitung in der Fläche eine ungelöste Herausforderung.

Fortschritte bei der OZG-Umsetzung sind also dringend nötig und beanspruchen aktuell viele Ressourcen bei Bund, Ländern, Kommunen und IT-Dienstleistern sowie den beteiligten Beratern. Bei all dem Fokus auf die kurze Frist bis zur OZG-Deadline gerät jedoch die lange Frist etwas aus den Augen: Was kommt eigentlich nach dem OZG? Trotz oder gerade wegen der dringenden kurzfristigen Umsetzungsaufgaben lohnt es sich, bereits heute daran zu denken, was die Verwaltungsdigitalisierung nach 2022 erwartet. Was passiert etwa, wenn die Deadline des OZG nicht eingehalten werden kann? Oder, wenn sie eingehalten werden kann, was ist der nächste Schritt? Die Antworten auf diese Fragen erfordern einige Vorbereitungszeit und sie haben potenziell auch Implikationen für die OZG-Umsetzung im Hier und Heute. Deshalb sollte bereits heute über diese Fragen nachgedacht werden. Im besten Fall können dadurch auch kurzfristig anstehende Aufgaben nachhaltiger und zielgerichteter umgesetzt werden.

Die Zukunft der Verwaltung ist antragslos

Klar ist, dass das OZG erst den Anfang darstellt. Während aktuell viel Aufwand in den Online-Zugang gesteckt wird, ist es für konsequente Nutzerfreundlichkeit nötig, alle Interaktionen zwischen Nutzer/-innen und der Verwaltung in den Blick zu nehmen. Der Online-"Zugang", den das Gesetz verspricht, wird in der Praxis mit der Digitalisierung von Formularen umgesetzt – konzentriert sich also auf den Antrag einer Verwaltungsleistung. Eine typische User Journey beginnt jedoch bereits davor, z. B. bei der Recherche von Informationen zu einer Leistung, und ist nach deren Beantragung noch nicht zu Ende. Bei vielen Verwaltungsleistungen folgen weitere, analoge Interaktionen mit der Verwaltung, bspw. Briefverkehr zur Nachforderung von Dokumenten oder persönliche Gespräche auf dem Amt sowie der Bescheid. Spätestens nach dem OZG gilt es, alle diese Interaktionen ebenfalls und medienbruchfrei zu digitalisieren, gegebenenfalls im Rahmen eines OZG 2.0.

Für die Zukunft der Verwaltungsdigitalisierung nach 2022 stellt sich aber eine noch grundsätzlichere Frage, nämlich, ob man die vielen Interaktionen überhaupt noch benötigt. Ziel einer modernen Verwaltung ist nicht, möglichst digital, sondern möglichst nutzerfreundlich zu sein. Statt Formulare und Interaktionen zu digitalisieren, könnte die Zukunft der Verwaltung deshalb darin bestehen, Formulare und andere Interaktionen komplett abzuschaffen. Ein bekanntes Praxis-Beispiel für diesen Ansatz ist das Kindergeld in Österreich (dort Familienbeihilfe genannt). In unserem Nachbarland wird die Geburt eines Kindes automatisch vom Krankenhaus über das Standesamt ans Finanzamt gemeldet und komplett ohne Antrag und Nachweise ausgezahlt (3). Die Behörden werden in diesem Fall also proaktiv tätig und vermeiden damit unnötige Interaktionen für die Eltern. In Deutschland gibt es mit dem Pilotprojekt "Einfach Leistungen für Eltern" kurz ELFE, ähnliche Bemühungen, die aber auch zeigen, wie aufwändig solche Verbesserungen sein können. ELFE musste mit zahlreichen gesetzlichen und technischen Änderungen zunächst die Voraussetzungen schaffen, um nutzerfreundliche Leistungen für Eltern zu ermöglichen.

Wie die Wirtschaft profitieren könnte

Auch die Forschung beschäftigt sich deshalb damit, wie proaktive und interaktionslose Verwaltungsleistungen in Deutschland umgesetzt werden können. Dazu zählt ein aktuelles Forschungsprojekt von fortiss und IBM, bei dem die nutzerfreundliche Anmeldung einer Gaststättenerlaubnis prototypisch umgesetzt wurde (4). Um die Machbarkeit von proaktiven und interaktionslosen Ansätzen zu demonstrieren, haben die beiden Partner damit eine Leistung aus dem OZG-Umsetzungskatalog gewählt, die eine hohe Priorität hat und zugleich in vielerlei Hinsicht durch einen proaktiven, digitalen Prozess im Sinne der Nutzer/-innen verbessert werden kann. Für die Leistung müssen unterschiedliche Dokumente besorgt und vorgelegt werden. Außerdem sind viele weitere Leistungen damit verknüpft, die zumindest teilweise identische Inhalte haben – Abfallentsorgung, Schank­lizenz oder Führungszeugnis beispielsweise. Eine genauere Analyse der nötigen Schritte für die Anmeldung einer Gastronomie zeigte: Die Nutzer/-innen müssen heute nicht nur zahlreiche Angaben mehrfach machen, sondern der Prozess ist nicht immer klar und deutlich strukturiert. Weder der Umfang der Schritte noch die Bearbeitungszeit sind immer gleich zu erkennen. Mit diesem Wissen führten die Forschungspartner anschließend einen interdisziplinären Methodenworkshop durch, bei dem ausgehend vom IST-Szenario eine mögliche digitale und vor allem weitgehend antragsfreie proaktive Umsetzung der Verwaltungsleistungen erarbeitet wurde. Nach rund vier Monaten konnten die Beteiligten dem Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie eine digitale Service-Plattform vorstellen, die die Gaststättenanmeldung für Nutzer/-innen proaktiv und fast komplett interaktionslos begleitet – und das in einer technischen Umsetzung, die mit der bestehenden E-Government-Infrastruktur in Bayern kompatibel ist.

Gerade die Wirtschaft kann also von verringerten Aufwänden durch proaktives Verwaltungshandeln und interaktionslosen Verwaltungsleistungen profitieren. Der Normenkontrollrat berechnet ein Potenzial von fast drei Milliarden Euro, die jährlich durch Digitalisierung eingespart werden können (5), und mahnt regelmäßig die schleppende Umsetzung des OZG an. Die Umgestaltung der Interaktion zwischen Nutzer/-innen und Verwaltungen wird im aktuellen "Monitor Digitale Verwaltung #4" explizit angesprochen: "[D]as volle Potenzial der Digitalisierung [wird] nur dann erreicht, wenn analoge Verfahren nicht einfach nur 1:1 elektrifiziert werden. Bisher ist dieses Potenzial nur bedingt gehoben worden." (6) Wie gerade Unternehmen von automatisierten Verwaltungsvorgängen profitieren können, zeigen auch zahlreiche Beispiele aus dem Ausland, wie beispielsweise das Standard Business Reporting (SBR) in den Niederlanden. SBR ist ein Standard für die digitale Übermittlung von Geschäftsberichten und Steuererklärungen. Durch die Standardisierung lässt sich das Reporting automatisieren und als Maschine-Maschine-Kommunikation über Programmierschnittstellen, sogenannte APIs, abbilden.


1    Vgl. Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat: "OZG 2021: Ein ereignisreiches Jahr steht bevor" (zuletzt abgerufen am 18.05.2021).
2    Vgl. Matthias Punz: "Großzügige Zählweise bei neuem OZG-Dashboard" (02.10.2020, Bezahlinhalt, Tagesspiegel Background, zuletzt abgerufen am 18.05.2021).
3    Vgl. Bundeskanzleramt Österreich: "Antragslose Familienbeihilfe bei Geburt eines Kindes" (zuletzt abgerufen am 18.05.2021).
4    Vgl. fortiss GmbH, Landesforschungsinstitut des Freistaats Bayern für softwareintensive Systeme: "Nutzerzentrierte Verwaltung durch proaktive und interaktionslose Leistungen" (ohne Veröffentlichungsdatum, zuletzt abgerufen am 18.05.2021).
5    Vgl. Kompetenzzentrum öffentliche IT am Fraunhofer-Institut für offene Kommunikationssysteme Fokus (Hg.): "Bürokratieabbau durch Digitalisierung: Kosten und Nutzen von E-Government für Bürger und Verwaltung. Gutachten für den Nationalen Normenkontrollrat. Dokumentation: Version 1.0 vom 16.11.2015" (PDF-Datei, 2,3 MB; zuletzt abgerufen am 18.05.2021).
6    Nationaler Normenkontrollrat (Hg.): "Monitor Digitale Verwaltung #4" (PDF-Datei, 2,5 MB; zuletzt abgerufen am 18.05.2021).

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