95 Jahre AWV: Handels- und steuerrechtliche Aufbewahrungspflichten im Wandel der Zeit

HGB, AO, GoB, GoS, GoBS, GDPdU, GoBD – Aufbewahrungspflichten nach Handels- und Steuerrecht sind nach wie vor wenig „sexy“. Komplex, aufwendig und dementsprechend teuer sind sie dafür allemal.

Im Jahr 2006 hat die damalige Bundesregierung das Regierungsprogramm „Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“ verabschiedet und das Standardkosten-Modell (SKM) in Deutschland eingeführt. Mit Hilfe des Statistischen Bundesamtes wurde erstmalig eine Bestandsmessung durchgeführt, anhand derer die Kosten ermittelt wurden, die Unternehmen aus gesetzlichen Informationspflichten entstehen. Die Bestandsmessung zeigte: In Deutschland machten die Bürokratiekosten im Finanzwesen knapp 43 % der gesamten Belastungen aus.(1) Die Messungen ergaben, dass allein die Aufbewahrungspflicht für Rechnungen die teuerste administrative Verpflichtung für Unternehmen in Deutschland ist.(2) Das Thema Aufbewahrung, so trivial und unattraktiv es zunächst klingen mag, ist vor diesem Hintergrund dann doch wieder spannend und völlig zu Recht eines der konstantesten Themen der AWV von Beginn der Facharbeit an. Betroffen sind dabei auch kleinste Unternehmen, die sich mit den komplexen Verpflichtungen oft schwertun. Die Anforderungen sind für Unternehmen eine wichtige Stellschraube zur Reduzierung von Kosten und im politischen Diskurs, im Kontext Bürokratieentlastungen von Unternehmen, ein wichtiges Thema.

Weniger aufbewahren, mehr finden

Von staubigen Archiven und Mikrofilmgrundsätzen zu Fragen des digitalen Datenzugriffs und der Akzeptanz von strukturierten Daten: Die AWV hat die Entwicklungen der Anforderungen an die Aufbewahrung stets mitgeprägt und die jeweils geltenden Grundsätze formuliert, kommentiert und interpretiert.

Bereits 1949 hat sich die AWV mit den Anforderungen an die Aufbewahrung auseinandergesetzt und ein Praxisbuch zur Schriftgutkunde(3) veröffentlicht, mit dem eine Neuregelung der „Aufbewahrfristen“ angeregt wurde. Im Jahr 1957, in der Oktober-Ausgabe der AWV-Mitteilungen, ist in einer Artikelüberschrift das zentrale und bis heute aktuelle Bedürfnis der Praxis formuliert worden: Weniger aufbewahren, mehr finden. In fast allen Betrieben, so ist zu lesen, sei die wachsende Menge an aufzubewahrendem Schriftgut problematisch.

Gesprochen wird von überquellenden Archiven, „Schriftgutballast“ und dem Bedürfnis nach „Entrümpelung“.(4) Unternehmen ächzten unter den aufzubewahrenden Papierbergen, weshalb eine Herabsetzung der Frist für einen Teil der aufbewahrungspflichtigen Unterlagen dringend erforderlich sei, für deren gesetzliche Neuregelung sich die AWV schon seit längerer Zeit eingesetzt habe. Zudem heißt es aber auch: „Man darf jedoch von einer gesetzlichen Neuregelung nicht die Lösung aller Schwierigkeiten erwarten. Die Möglichkeiten, die dem Betrieb unbeschadet der gesetzlichen Vorschriften gegeben sind, müssen erkannt und planmäßig ausgenutzt werden.“(5)

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Bild: Adobe Stock / Gina Sanders


1 Statistisches Bundesamt (Hg.): Die Bestandsmessung der Bürokratiekosten der deutschen Wirtschaft nach dem Standardkosten-Modell (= Statistik und Wissenschaft. Band 14), Wiesbaden 2014, S. 24.
2 Vgl. ebd., S. 23.
3 Ausschuß für wirtschaftliche Verwaltung (AWV) beim Kuratorium für Wirtschaftlichkeit (RKW) (Hg.): Schriftgutkunde, 2. Auflage, Stuttgart 1949.     
4 N.N.: Weniger aufbewahren, mehr finden, in: AWV-Mitteilungen, Heft 10/1957, S. 1–2, hier S. 1.
5 Ebd., S. 2.