Wie Foresight-Prozesse die Organisationsentwicklung in der Zivilgesellschaft stärken können

Ein Beitrag von Laura Benning (ZiviZ im Stifterverband, Berlin)

Überalterung der Bevölkerung, beschleunigte Digitalisierung, soziale Spaltung, weltweite Krisen – Deutschland steht in diesem Jahrzehnt vor enormen Herausforderungen, die sich nur gemeinschaftlich bewältigen lassen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Zivilgesellschaft: Vereine, Stiftungen und andere gemeinnützige Organisationen werden gebraucht, um anstehende Transformationsprozesse zu meistern.

Zugleich haben diese Entwicklungen auch Auswirkungen auf die Zukunft der Zivilgesellschaft: Wie viel Zeit werden die Menschen noch für ihr Engagement aufbringen? Wie gerecht werden die Lebensverhältnisse sein? Welche Chancen bietet die weiter voranschreitende Digitalisierung?

Zukunft braucht Zivilgesellschaft

Um dafür gerüstet zu sein und schon jetzt Maßnahmen und Kompetenzen zu bestimmen, müssen zivilgesellschaftliche Organisationen sich mit der Zukunft – oder besser gesagt: mit möglichen Zukünften – auseinandersetzen. Denn auch wenn niemand die Zukunft vorhersagen kann, ist Zukunft das, was wir jetzt tun.
Vor allem in Unternehmen hat sich ein Blick in die Zukunft etabliert. Im Rahmen von Strategieprozessen wird dabei oft die Foresight-Methode verwendet, die dabei hilft, zukünftige Veränderungen für das eigene Geschäftsfeld zu identifizieren, Zukunftsszenarien zu entwickeln und Strategien abzuleiten.

Im Rahmen unseres Projekts „Foresight Zivilgesellschaft“ (gefördert durch die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt) haben wir uns dieser Methode der strategischen Vorausschau bedient und sie für zivilgesellschaftliche Organisationen, in denen sie noch kaum bekannt ist, angepasst. Wir wollen so auch dazu anregen, zukunftsorientiertes Denken, Planen und Handeln noch stärker in der heutigen Organisationspraxis zu verankern.

Szenarien und Strategien für die Zivilgesellschaft

Gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus Stiftungen, Verbänden, Unternehmen und Vereinen haben wir die beschriebenen Entwicklungen – sowohl im Einzelnen als auch in Interaktion zueinander – in Szenarien vorausgedacht. Die Szenarien verteilen sich auf drei Sozialräume des Engagements (Metropolregionen, periphere und ländliche Räume) und beinhalten Faktoren wie Digitalisierung, Diversität und Teilhabe oder politische Rahmenbedingungen.

Im Zentrum eines Szenarios für die Metropolregion stehen beispielsweise Konflikte durch vermehrten Zuzug, die zunehmende Dichte des Zusammenlebens und den Modernisierungsstau in der öffentlichen Verwaltung, der die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungsprozessen einschränkt. Gemeinschaft findet nur noch im Netz statt, gesellschaftlicher Zusammenhalt ist kaum noch vorhanden. Unsere Studie empfiehlt, Orte des Austausches auch abseits des Digitalen zu schaffen, durch die Stärkung des Engagements unterrepräsentierter Gruppen vorzeitig Spaltungstendenzen entgegenzuwirken und inklusive Beteiligungsprozesse zu gestalten. Auch Defizite in der Ressourcenausstattung und Digitalität öffentlicher Verwaltungen müssen angegangen werden – hier können sich zivilgesellschaftliche Organisationen mit politischen Forderungen und innovativen Ideen einbringen.

Ein weiteres Szenario der Studie beschäftigt sich mit möglichen positiven Entwicklungen im ländlichen Raum: Immer mehr Menschen ziehen aufs Land. Der Staat hat die Notwendigkeit des Zugangs zur digitalen Welt erkannt: Neben Spitzenübertragungsraten sind auch Bürgeramt und Bibliotheken komplett digital erreichbar. Digitales Engagement überwindet Distanzen und lässt neue Formen der Beteiligung entstehen. Zeit für Engagement wird attraktiver, auch in der Arbeitswelt. Jedoch wird die digitale Utopie begleitet von stetigen Neuverhandlungen um Diversität und Teilhabe. Hier empfiehlt unsere Studie unter anderem die Bereitstellung von (digitalen) Infrastrukturen durch Kommunen, um Orte des gemeinsamen Wirkens zu schaffen, und die Entwicklung neuer Ansätze, die digitale und analoge Formen des Engagements kreativ miteinander verbinden und Neuzugezogenen attraktive Engagementangebote bieten (z.B. durch Kooperationen von Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft).

Moderation und Vermittlung wird auch hier zu einer Kernaufgabe der Zivilgesellschaft, auf die es sich beispielsweise in der Kinder- und Jugendarbeit zu fokussieren lohnt.

Übergeordnet leiten wir in unserer Studie fünf Maßnahmen ab, die gemeinnützige Akteure in den Fokus nehmen sollten:

1. Zivilgesellschaft als Ort der gesellschaftlichen Integration und der Moderation gesellschaftspolitischer Konflikte stärken, um ehrenamtlich Engagierte beim Aufbau von Kompetenzen in der Konfliktvermittlung und -moderation zu unterstützen
 
2. Digitale und analoge Engagementmöglichkeiten verknüpfen und hybride Beteiligungsmöglichkeiten ausbauen, um vor allem ältere Menschen nicht abzuhängen
 
3. Die Stimme der Zivilgesellschaft in der Sozialraumplanung stärken, um Gemeinschaftsflächen für verschiedene Milieus und Initiativen vor Ort zu schaffen bzw. zu bewahren
 
4. Intersektorale Partnerschaften fördern, um dem Fachkräftemangel abseits der Metropolen entgegenzuwirken, ein attraktives Arbeits- und Wohnumfeld zu schaffen  und das Bedürfnis nach sinnstiftenden Jobs aufzunehmen
 
5. Organisationskapazität und Zukunftskompetenzen stärken, um gemeinnützige Organisationen – mit Blick auf Personal, finanzielle Ausstattung und digitale Kompetenzen – fit für die Zukunft machen (z.B. durch engagementfördernde Einrichtungen und Dachverbände)

Weitere Informationen

Benning, Laura, Gerber, Luisa, Krimmer, Holger, Schubert, Peter, Tahmaz, Birthe: Zivilgesellschaftliches Engagement im Jahr 2031. Prognosen und Zukunftsszenarien. 2022.
www.ziviz.de/zukunft-der-zivilgesellschaft

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