Projektorientierte Governance der Zeitenwende

Ein Beitrag von Norman Heydenreich, Management Akademie Weimar

Öffentliche  Projekte in Deutschland liefern oft nicht die von der Politik erwarteten und den Bürgern versprochenen Ergebnisse und stehen daher seit Jahrzehnten in der Kritik: Infrastrukturprojekte, die Voraussetzungen für wirtschaftliche Entwicklung schaffen, Rüstungsprojekte zur Sicherung der Verteidigungsfähigkeit, aber auch politische Programme, welche die Zukunft Deutschlands nachhaltig gestalten sollen, wie die Digitale Verwaltung oder die Energiewende. Bürger zweifeln daran, dass es mittels demokratischer Politik möglich ist, Zukunft zu gestalten. Auf dem Kongress „Mit Projekten Deutschlands Zukunft gestalten“ wurde 2017 ein gleichnamiges Aktionsprogramm diskutiert und an die Bundesregierung übergeben.(1) Einiges wurde seitdem umgesetzt, doch die Herausforderungen wachsen schneller als die Umsetzung. Es müssen zusätzlich zahlreiche komplexe Krisen und Herausforderungen gemeistert und die dafür erforderlichen Projekte erfolgreich durchgeführt werden. Auf dem Spiel steht nicht mehr nur der Ruf von Politikern, sondern unsere Sicherheit und Freiheit und die Erhaltung unserer Demokratie. Vorgeschlagen wird eine projektorientierte Transformation der Organisation von Politik und Verwaltung.  

Auf dem ersten Kongress „Mit Projekten Deutschlands Zukunft gestalten“ im Januar 2015 unter der Schirmherrschaft des Bundeswirtschaftsministers wurde eine gesellschaftspolitische Debatte initiiert: Was ist zu tun, damit Deutschland zu einem Land der erfolgreichen Projekte wird? Das Ergebnis waren die Empfehlungen, die im Rahmen des Aktionsprogramms „Mit Projekten Deutschlands Zukunft gestalten“ während des Kongresses 2017 an die Bundesregierung übergeben wurden: Vorbereitung der Führungskräfte auf ihre Rolle in Projekten, Projektmanagementausbildung aller Projektleiter, ein Kompetenzzentrum für Großprojekte, eine verbindliche Richtlinie für die Governance von Projekten, um klare Verantwortungsstrukturen zu schaffen, Ausbau des Projektportfoliomanagements, Reform der gesetzlichen Rahmenbedingungen für öffentliche Projekte, Beteiligung an der Weiterentwicklung von Projektmanagementnormen, Projektmanagementkompetenz als Schlüsselkompetenz in der Weiterbildung, Ausbau der Projektmanagementforschung und -lehre sowie Überprüfung der Wirksamkeit der Maßnahmen durch ein interdisziplinäres Begleitforschungsprogramm.(2) Einiges davon wurde seitdem in verschiedenen Behörden unter der Koordination eines Beirats umgesetzt. Von der Politik wurde das strategische transformative Potenzial des Programms kaum genutzt.
 
Herausforderungen der Zeitenwende

Sich wechselseitig verstärkende Krisen in den Bereichen Klima, Geopolitik, Migration und gesellschaftlicher Zusammenhalt steigern die gesellschaftliche Komplexität und Unsicherheit. Der russische Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine hat die Politik zu einer radikalen Neubewertung der Gefahren im Bereich der äußeren Sicherheit und damit auch der strategischen Prioritäten gezwungen („Zeitenwende“(3)). Die internationale regelbasierte Ordnung, Grundlage der internationalen Zusammenarbeit, wird von untereinander kooperierenden totalitären Regimen und terroristischen Organisationen angegriffen. Die Multikrise neuer und bekannter existenzieller Risiken stellt eine große Bewährungsprobe für die Gestaltungsfähigkeit demokratischer Staaten dar. Bürger zweifeln an der Fähigkeit demokratischer Politik, Zukunft zu gestalten. Autoritäre Systeme und Parteien verweisen auf ihre angebliche Überlegenheit durch ihre Macht-Hierarchie, die rasche Entscheidungen ermögliche. Allerdings wird notwendige Lernfähigkeit nicht durch Macht-Hierarchien gefördert, die immer wieder durch dramatische Fehleinschätzungen auffallen, mit katastrophalen Folgen für Mensch und Natur.

Gefordert ist die Fähigkeit zu einer lebensfördernden Multi-Missions-Politik, die auf alle Krisen gleichzeitig eine zumindest ausreichende Antwort gibt. Anpassung an sich beschleunigende Veränderungen und die Notwendigkeit, strategische Ziele nicht nur zu formulieren, sondern auch zu erreichen, sind heute für Politik und Verwaltung nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Am Erfolg hängt nicht mehr nur der Ruf von Politikern, sondern das Schicksal unseres Landes. Daher müssen Politik und Verwaltung gewohnte bürokratische Arbeitsweisen entlang definierter Zuständigkeiten und Prozesse durch an der Umsetzung strategischer Ziele orientierte Arbeitsweisen ersetzen, die zugleich einen hohen Grad an Flexibilität und Lernfähigkeit ermöglichen.

Kulturwandel gegen Bürokratie und organisierte Verantwortungslosigkeit

In großen Behörden und Unternehmen haben sich in fetten Jahren bürokratische Organisationskulturen herausgebildet: Immer mehr Mitarbeitende und Organisationseinheiten sind nur für die Einhaltung und Perfektionierung von vorgegebenen Prozessen verantwortlich und nicht für Ergebnisse. Dies macht es schwer, ergebnisorientiert zu führen, und hat insbesondere in Projekten verheerende Auswirkungen: Organisierte Verantwortungslosigkeit.

Projekte brauchen Vertrauen und Gestaltungsspielraum. Sie brauchen Manager, die Verantwortung übernehmen, auf Basis von Erfahrungen situationsbezogen, flexibel und pragmatisch entscheiden, vorangehen und Risiken nicht scheuen, sondern adressieren, immer mit dem Blick auf die Projektziele – und manchmal auch darüber hinaus, um Chancen zu realisieren. Sie brauchen klare Prinzipien, Verantwortungsstrukturen und eine Kultur, die Selbstverantwortung, Performance und Qualität fördert. Wesentlich dabei ist die Klärung und Stärkung der Verantwortung der Entscheider in Politik und Verwaltung als Projekt-Auftraggeber und -Sponsoren. Die Priorisierung und übergreifende Steuerung der politischen Projekte erfolgt durch ein politisch verantwortetes Portfolio- und Programmmanagement. Die bürokratische Organisation und Kultur der öffentlichen Verwaltung wird durch eine projektorientierte Organisation und Kultur ersetzt, d. h. ein gemeinsames Verständnis der Herausforderungen und Risiken, klare gemeinsame Ziele und klare Verantwortung für die Zielerreichung. Projektorientierte Kultur der Zusammenarbeit bedeutet: „Jeder für die gemeinsame Sache“ statt „Jeder an seinem Platz“.

In der komplexen Welt verbundener sozialer und ökologischer Krisen sind die meisten Organisationen und Projekte komplexe adaptive Systeme. Deren Management ist nicht nur rationale Entscheidungsfindung, sondern auch ein offener politischer Prozess. Handlungsmuster entstehen unvorhersehbar in selbstorganisierenden Prozessen. Um der zunehmenden Komplexität und Unsicherheit beschleunigter globaler Entwicklungen und sozialer und ökologischer Systemkrisen nachhaltig zu begegnen, ist ein Wandel der Führung und der Managementsysteme zu agilen und adaptiven Ansätzen erforderlich. Über Prozesse hinaus sind Werte, Grundsätze, Mindsets, Kulturen und Kompetenzen von wesentlicher Bedeutung.

Nachhaltige Governance von Projekten sieht diese als Zukunftsgestaltung, vorgegebene Zwecke und Ziele nicht als abschließend, sondern als offen für eine gemeinsame Entwicklung ihres Potenzials. Sie fördert Selbstorganisation und -verantwortung durch geeignete Rahmenbedingungen. Förderung nachhaltiger Lösungen in Projekten und Einbindung nachhaltiger Ziele in das Projektmanagement bedeutet, dass langfristige Auswirkungen und ein viel größerer Kreis von Stakeholdern berücksichtigt und mehr Interessenkonflikte bewältigt werden müssen. Wenn Projekte die zusätzliche Komplexität annehmen und mit ihr kreativ umgehen, anstatt sie zu reduzieren oder zu vereinfachen, ergeben sich daraus Chancen für innovative Lösungen.

Fazit

Die Zeitenwende erfordert einen neuen Politik- und Managementansatz. Statt Politik als bloßem „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung“(4) mit bürokratischer Umsetzung braucht es eine missionsorientierte Politik, die eine humane Gesellschaft fördert, dem Leben auf diesem Planeten dient und die Risiken seiner Zerstörung mindert – mit einem projektorientierten Umsetzungsansatz und einer agilen, projektorientierten Kultur der Zusammenarbeit und Organisation.  
Ein gemeinsames Verständnis von Werten, Prinzipien und Basiskonzepten für das Management und die Governance nachhaltiger Projekte kann dazu einen Beitrag leisten. Die anstehende Revision der deutschen Projektmanagement-Normenreihe DIN 69901 auf der Grundlage der PM²-Initiative der Europäischen Kommission könnte dafür ein erster Schritt sein.  Interessierte an einer Mitwirkung bei der Ausarbeitung dieser Perspektive können sich beim Autor dieses Beitrags und Obmann des DIN-Arbeitsausschusses „Projektmanagement“ melden.


1 Nähere Informationen s. hier.
2 Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e.V. (Hg.): Mit Projekten Deutschlands Zukunft gestalten. Memorandum, Nürnberg 2017.
3 Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022.
4 Max Weber: Politik als Beruf, in: Geistige Arbeit als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund, Bd. 1, München 1919, o. S.

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