AWV-Interview mit Prof. Dr. Kristina Sinemus, Hessische Ministerin für Digitale Strategie und Entwicklung

Die hessische Digitalministerin Prof. Dr. Kristina Sinemus erklärt in unserem Interview, wie das Bundesland Hessen in das Digitalisierungsprogramm des Onlinezugangsgesetzes eingebunden ist und welche Themenfelder federführend bearbeitet werden. Weitere Schwerpunkte des Interviews liegen auf den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Wirtschaft und Verwaltung, auf der Digitalisierung als Innovationstreiber der Gesellschaft und auf dem neuen Zentrum für Künstliche Intelligenz an der TU Darmstadt, das von 13 Hochschulen getragen wird.

Sehr geehrte Frau Ministerin, seit Januar 2019 sind Sie hessische Staatsministerin für Digitale Strategie und Entwicklung. Welche Erfahrungen aus Ihrer langjährigen Praxis als Unternehmerin, als Präsidentin der Industrie- und Handelskammer Darmstadt Rhein Main Neckar und auch als Professorin kommen Ihnen in Ihrem jetzigen Amt als Digitalministerin zugute?
Zunächst war es gut und richtig, dass die Hessische Landesregierung 2019 entschieden hat, ein eigenes Digitalministerium zu gründen. Ausgestattet mit einem Digitalbudget in Höhe von 1,2 Milliarden Euro steuern wir so in bundesweit einmaliger Form die Digitalisierung eines Bundeslandes. Wir haben innerhalb eines Jahres eine gut funktionierende neue Organisationsstruktur innerhalb der Landesregierung aufgebaut. Hier waren die gewisse Ungeduld und das Vorwissen, welches ich als Unternehmerin mitgebracht habe, zu Beginn meiner Amtszeit hinderlich und förderlich zugleich. Dass der Aufbau gelungen ist, ist der Mischung von Gründlichkeit der Verwaltung und deren Spezialwissen, einem Teamspirit wie in einem Start-Up und einem kooperativen Geist, über alle Ministerien hinweg etwas Neues etablieren zu wollen, zu verdanken. Mein Wechsel war nach über zwanzig Jahren Unternehmenserfahrung eine bewusste Entscheidung, aber auch ein Schritt aus der eigenen Komfortzone heraus und einer Maxime folgend, die ich als Unternehmerin immer vertreten habe: Die Wege zwischen Politik und Wirtschaft müssen durchlässiger werden. Beide Seiten können viel voneinander lernen und sollten sich gegenseitig besser verstehen. Unser verbindendes Ziel lautet: Fit für die Digitalisierung und die Zukunft zu sein. Wie wichtig dieses Zusammenspiel ist, merken wir gerade jetzt in Coronazeiten.

Bund und Länder sollen bis 2022 ihre Verwaltungsportale miteinander verbinden und darüber hinaus alle Verwaltungsleistungen auch online anbieten. So sieht es das Onlinezugangsgesetz (OZG) vor. Sind die hessischen Kommunen dafür gut aufgestellt? Wie wird auf Landesebene sichergestellt, dass Verwaltungsleistungen nutzerfreundlich digitalisiert werden?
In Hessen verläuft die Umsetzung weitgehend nach Plan. Bund, Länder und Kommunen arbeiten bei der Verwaltungsdigitalisierung Hand in Hand. Unser Ziel ist es, die Kommunikation mit staatlichen Stellen für die Bürgerinnen und Bürger so einfach und schnell wie möglich zu gestalten und quasi das digitale Rathaus nach Hause zu bringen. Ganz nach meiner Devise, dass Digitalisierung dem Menschen dienen muss und nicht umgekehrt. Den großen Rahmen zur Umsetzung des OZG bilden dabei die Beschlüsse des IT-Planungsrats zum Digitalisierungsprogramm II. Wir haben die Leistungen aus dem OZG-Katalog in 14 Themenfelder aufgeteilt, die im Tandem zwischen einem federführenden Land und einem Bundesressort bearbeitet werden. Die Ergebnisse kommen dann in den Ländern und auf der kommunalen Ebene zum Einsatz.

Das Land Hessen unterstützt die Kommunen bei der Digitalisierung der Verwaltung vielfältig, und wir haben von Beginn an die kommunalen Spitzenverbände in unsere Überlegungen und Planungen einbezogen. Mit der Digitalisierungsplattform "civento" stellen wir durch den kommunalen IT-Dienstleister ekom21 den Kommunen eine Plattform zur Verfügung, mit der die Abläufe in der Verwaltung verschlankt und effizienter gestaltet werden. Mit dieser Plattform besteht für alle Kommunen die Möglichkeit, eingehende Anträge mit einem durchgängigen elektronischen Prozess zu bearbeiten. Dies schafft einen echten Mehrwert, sowohl bei der Behörde in Form einer Reduktion des Aufwandes und der Fehleranfälligkeit als auch beim Antragsteller durch eine schnellere Bearbeitung. Unsere hessische Plattformstrategie wird von den Kommunen in Hessen gut angenommen, inzwischen nutzen über 90 % der insgesamt 422 Kommunen die Plattform.

Die technisch leistungsstarke Plattform "civento" nutzen inzwischen auch andere Bundesländer. So haben die Länder Saarland, Rheinland-Pfalz und Hessen im November vereinbart, künftig bei der Digitalisierung von Verwaltungsleistungen als OZG-Verbund Mitte auf Basis von „civento“ verstärkt zu kooperieren.

Daher bin ich zuversichtlich, dass wir die enormen organisatorischen und technischen Herausforderungen sowohl länderübergreifend, auf Landesebene als auch im kommunalen Bereich gut bewältigen können. Das Hessische Digitalministerium fördert zudem mit dem Programm "Starke Heimat Hessen" die Digitalisierung der Kommunen in Höhe von jährlich 20 Millionen Euro in den Jahren 2020 bis 2024. In der ersten Phase des Förderprogramms wurden im Jahr 2020 neben der Bereitstellung der Digitalisierungsplattform "civento" 16 Millionen Euro als zweckgebundene Zuwendung für Digitalisierungsvorhaben den hessischen Kommunen zur Verfügung gestellt.

Der Beauftragte der Bundesregierung für Informationstechnik, Dr. Markus Richter, hat sich in unserer letzten Ausgabe für die Nachnutzung digitaler Verwaltungsleistungen nach dem "Einer-für-Alle"-Prinzip ausgesprochen. Bei der Umsetzung von Leistungen nach diesem Prinzip muss nicht neu entwickelt werden, was anderenorts auf kommunaler Ebene bereits online umgesetzt ist. Wie beteiligt sich das Land Hessen an dem "Einer-für-Alle"-Prinzip und dessen Umsetzung? Welche Erfahrungen gibt es mit der Nachnutzung digitaler Verwaltungsleistungen bei den Kommunen?
Die Digitalisierung funktioniert am besten, wenn sie einheitlich erfolgt. Daher sollten, wenn die Voraussetzungen bestehen, Leistungen als "Einer-für-Alle"-Lösung (EfA) bundesweit angeboten werden. Hessen bringt sich insgesamt sehr engagiert in das Digitalisierungsprogramm II ein – immerhin haben wir zwei von 14 Themenfeld-Federführungen übernommen und setzen darüber hinaus zusätzliche Leistungen um. Dort, wo es sinnvoll ist, werden Verfahren als EfA entwickelt. Vor dem Hintergrund der Konjunkturmittel zur Beschleunigung des OZG stehen wir derzeit mit unseren Federführern im Gespräch, um weitere EfA-Leistungen zu sondieren.

Hessen bringt sich mit der Übernahme von zwei Themenfeld-Federführungen überdurchschnittlich in die arbeitsteilige Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes ein. Im Main-Kinzig-Kreis ist aus dem Themenfeld "Mobilität & Reisen" der Pilot für den digitalen Führerscheinantrag gestartet.

Wir haben darüber hinaus frühzeitig die Federführung zur Entwicklung des ALG II-Online-Antrags übernommen. Seit Ende Juli steht das Verfahren allen 104 Kommunalen Jobcentern bundesweit zur Verfügung. Mit dem Online-Verfahren wird auch die elektronische Bearbeitung von ALG II möglich. Dreizehn Kommunale Jobcenter aus drei Bundesländern nutzen bereits dieses Online-Verfahren, weitere zehn Jobcenter sind in der Umstellungsphase. Das ALG II-Online-Verfahren wird nunmehr um weitere Antragsarten erweitert.

Ab sofort können auch Telekommunikationsunternehmen einen neuen Online-Antrag basierend auf "civento" nutzen. Sieben Pilotkommunen in Hessen und Rheinland-Pfalz und zukünftig auch eine in Baden-Württemberg steht die Leistung zur Verfügung, die Genehmigungsprozesse für den Breitbandausbau vereinfacht. Damit wird der Ausbau von flächendeckenden Gigabitnetzen zunächst in der Metropolregion Rhein-Neckar, später in ganz Deutschland beschleunigt. Das Antragsverfahren wurde unter gemeinsamer Federführung von Rheinland-Pfalz und Hessen erarbeitet.

Zusammengefasst, EfA ist wirtschaftlich, EfA funktioniert, aber EfA ist kein einfaches Allheilmittel. Denn es muss erstens die Inter­operabilität zu vielen Komponenten wie Servicekonten, Payment-Systemen oder Fachverfahren berücksichtigt werden. Zweitens ist EfA nicht für alle Verfahren geeignet, sondern schätzungsweise für höchstens ein Drittel der Leistungen aus dem OZG-Katalog. Daher dürfen wir uns nicht ausschließlich auf EfA fokussieren.

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