Ist Bürokratie gleich Bürokratie?

Wahrscheinlich würde niemand in der Verwaltung auf die Idee kommen, heutzutage die Eigenbezeich­nung „Bürokrat“ zu wählen, um den eigenen Berufsstand zu beschreiben. Sehr wohl denken wir aber, wenn wir den Begriff Bürokratie hören, in erster Linie an verstaubte Amtsstuben, händisch auszufüllende Formulare und die öffentliche Verwaltung. Der deutsche Sprachgebrauch unterscheidet, anders als wissenschaftliche Fachtermini oder Zuschreibungen auf Englisch, nicht zwischen dem Erfüllungsaufwand von Gesetzen, ineffizienten Regeln und Prozessen und im Allgemeinen der Organisationsweise „Bürokratie“ (die im Übrigen öffentliche wie private Organisationen annehmen kann und die nicht per se schlecht ist) (5).

Wenn wir von Bürokratieabbau sprechen, ist zumeist eine Verringerung des Aufwands gemeint, der vonnöten ist, gesetzlichen Bestimmungen nachzukommen. Vor diesem Hintergrund wurden Kontrollgremien wie der Nationale Normenkontrollrat geschaffen, deren Aufgabe es ist, Verbesserungsbedarfe zu ermitteln, aber auch Wege aufzuzeigen, Gesetzes­vorhaben besser auszugestalten. Bürokratische Hürden entstehen aber nicht nur aufgrund gesetzlicher Vorgaben. Organisationen selbst schaffen durch ineffiziente Regeln sowie eigene Richtlinien und Prozesse viel unnötige Bürokratie, im Englischen als Red Tape ( 6) bezeichnet.

Red Tape liegt vor, wenn eine Regel bzw. ein Prozess so ausgestaltet ist, dass ein unnötiger Erfüllungsaufwand erzeugt wird und nicht ausschließlich funktionale Schritte befolgt werden müssen. Es stellt sich zugleich aber die Frage, ob verschiedene Formen von Red Tape existieren und welchen Einfluss diese auf Erfüllungsaufwand und Funktionalität ausüben. Oder anders gesagt: Macht es einen Unterschied, wenn man einen (bürokratischen) Prozess „einfach“ digitalisiert und über Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) abwickelt?

Red Tape, Bürokratie und Coping

Die Bewertung eines Erfüllungsaufwands als unnötig und zu hoch ist letztlich subjektiv und nur annäherungsweise objektiv messbar. Neben der Frage, ob es demnach überhaupt verschiedene Formen von Red Tape gibt, sollte letztlich im Mittelpunkt stehen, wie Mitarbeitende mit unnötiger Bürokratie umgehen. Entsprechend transaktionaler Stressmodelle (7) bewerten Mitarbeitende in einem ersten Schritt die Intensität der möglichen negativen Folgen von Red Tape. Im zweiten Schritt werden die verfügbaren persönlichen und organisationalen Ressourcen abgewogen, mit denen einem solchen Stressor begegnet werden kann. Anhand dieser Abwägung erfolgt schließlich die Auswahl eines Bewältigungsstils (Coping). Dieser kann verschiedene Formen annehmen. Übergeordnet wird zwischen emotions- und problemorientiertem Coping unterschieden. Bei Ersterem wird die eigene Einstellung gegenüber dem Stressor angepasst, bei Letzterem das Problem an sich.

Red Tape selbst ist grundsätzlich mit zahlreichen negativen Effekten verbunden und fällt in öffentlichen Organisationen oft stärker aus als in privaten. Insbesondere ist ein negativer Effekt auf die Leistungsfähigkeit bzw. Performance nachweisbar. Außerdem neigen Mitarbeitende in Organisationen mit einem hohen Grad an unnötiger Bürokratie dazu, Regeln häufiger zu missachten und sich von der Organisation zu entfremden.(8) In der Forschung konnte auch gezeigt werden, dass aufgrund von Red Tape die Arbeitszufriedenheit von Verwaltungsmitarbeitenden abnimmt. Der damit einhergehende Veränderungsdruck könnte entgegengesetzt bei Mitarbeitenden wie der Organisation aber auch die Veränderungsbereitschaft erhöhen, nach dem Motto: Problem erkannt, Problem gebannt.

Jedoch ist nicht nur Red Tape an sich ein relevanter Faktor in Bezug auf zentrale Outputvariablen, wie Performance und Arbeitszufriedenheit. Vielmehr sind emotionsorientierte Coping-Stile häufiger mit Burn-Out assoziiert, aktives Bewältigungsverhalten hingegen ist mit positiven Auswirkungen verbunden. Andere Untersuchungen haben in Bezug auf Technologie und Digitalisierung ermittelt, dass Arbeitsbelastung und Zeitdruck durch IKT steigen und sogenannter „Technostress“ ausgelöst wird.(9) Dieser führe häufiger zu emotionsorientiertem Coping, eine aktive Bewältigung des Stresses findet somit nicht statt. Bisher wurde jedoch nur unzureichend untersucht, wie Mitarbeitende (der öffentlichen Verwaltung) mit Red Tape umgehen und welche Coping-Stile sie in Bezug auf verschiedene Formen von Red Tape auswählen.

Wie Mitarbeitende mit Red Tape umgehen

Diese Studie hat zur Untersuchung der aufgeworfenen Fragen ein experimentelles Untersuchungsdesign gewählt. Durch experimentelle Studien kann die kausale Richtung eines Zusammenhangs überprüft und damit das Henne-Ei-Problem gelöst werden. In diesem Fall wurden die Teilnehmenden in einer Online-Befragung mit einer Textvignette konfrontiert, die zwischen den Versuchsgruppen variierte. Die 144 Befragten sollten sich einen Prozess vorstellen, der unnötig bürokratisch ist und anschließend angeben, wie sie damit umgehen würden. Die Kontrollgruppe wurde mit einem Prozess konfrontiert, der durch interne Vorgaben in analoger Form Red Tape-behaftet war. Dieses Ergebnis wurde mit drei weiteren Versuchsgruppen verglichen, die sich in unterschiedlichen Kombinationen durch externe bzw. interne Vorgaben der Aufsichtsbehörde und digital bzw. analog hervorgerufenes Red Tape ausgezeichnet haben.

grafische Darstellung der Coping-Strategie der Versuchsgruppen
Abb. 1: Die Mittelwerte zeigen, wie stark die Versuchsgruppen sich jeweils bemüht haben, unnötige Bürokratie zu bewältigen. Am aktivsten wurde die Versuchsgruppe, bei der Red Tape in einem analogen Prozess durch externe Vorgaben (extern-analog) hervorgerufen wurde.
(© Nicolas Drathschmidt)



Zwar konnte keine statistische Signifikanz (10) der vorliegenden Mittelwert-Unterschiede nachgewiesen werden – die Stichprobengröße ist geringer als erwartet ausgefallen – dennoch fallen einige interessante Ergebnisse auf, die im Anschluss durch weitergehende statistische Analyse (z. B. Regressionsanalyse) ermittelt wurden. Wie in Abbildung 1 zu sehen, tendiert die Versuchsgruppe, bei denen Red Tape in einem analogen Prozess durch externe Vorgaben hervorgerufen wird, zu aktiver Bewältigung. Das heißt, die Teilnehmenden geben an, sie würden sich aktiv darum bemühen, Lösungen zu suchen, die den Erfüllungsaufwand des Prozesses verringern oder die Funktionalität erhöhen. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass man sich einer externen Vorgabe weniger verpflichtet fühlt als den internen Regeln der eigenen Organisation und ein analoger Prozess zudem einfacher bearbeitbar scheint. Dementsprechend zeigt sich auch weiterführend ein positiver Effekt dieser Form von Red Tape auf problemorientiertes Coping. Die Kontrollgruppe, deren Red Tape intern hervorgerufen wird, scheint sich demnach eher vom eigenen Arbeitgeber zu entfremden und gar nicht erst an eine aktive Bewältigung zu denken.


5 Vgl.: Barry Bozeman: A Theory Of Government “Red Tape”, in: Journal of Public Administration Research and Theory 3/3 (1993), S. 273–304, oder Herbert Kaufman: Red tape. Its origins, uses, and abuses, Washington, D.C. 1977.
6 Zurückgehend auf das rote Band, mit dem früher Verwaltungsdokumente im angloamerikanischen Raum zusammengebunden wurden (siehe Bozeman 1993).
7 Vgl. Richard S. Lazarus, Susan Folkman: Transactional theory and research on emotions and coping, in: European Journal of Personality 1/3 (1987), S. 141–169.
8 Vgl. Alexander Kroll, Dominik Vogel: Why public employees manipulate performance data: prosocial impact, job stress, and red tape, in: Inter­national Public Management Journal 24/2 (2021), S. 164–182.
9 Vgl. John D'Arcy, Tejaswini Herath, Mindy K. Shoss: Understanding Employee Responses to Stressful Information Security Requirements: A Coping Perspective, in: Journal of Management Information Systems 31/2 (2014), S. 285–318.
10 Statistische Signifikanz gibt an, inwiefern die Möglichkeit besteht, dass die Ergebnisse rein zufällig und nicht aufgrund des erwarteten Zusammenhangs zustande gekommen sein könnten.


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