Was sich aus der Statistik folgern lässt
Eine Steigerung der Teilnehmerzahlen um 280 Prozent ist, auch wenn sich die Entwicklung über einen längeren Zeitraum erstreckt hat, eine enorme Herausforderung und Belastung für das System Integrations- und Sprachkurse. Die schwankende Entwicklung bei den Flüchtlingszahlen und die Corona-Einschränkungen führten dazu, dass Kurszahlen und damit auch Lehrpersonal abgebaut und wieder aufgebaut werden mussten. Insbesondere beim Lehrpersonal, das zum großen Teil freiberuflich tätig ist, führte das zu Abwanderungen, die nicht immer kompensiert werden können. Die Zahl der freiberuflichen Lehrkräfte, die Deutsch als Fremdsprache unterrichten, reicht nicht aus. Der bereits in den Vorjahren vorhandene Mangel hat sich noch verschärft. Das wiederum bedingt, dass zu wenige Kurse angeboten werden können, obwohl die Anbieter, insbesondere in den vergangenen beiden Jahren, unter großen Anstrengungen die Kapazitäten gesteigert haben.
Die vorhandenen Engpässe führen dazu, dass Kurse erst nach einer durchschnittlichen Wartezeit von sechs Monaten belegt werden können. In ländlichen Regionen sind die Wartezeiten noch um einiges länger.
Durch diese Mangellage müssen die Kurse auf bis zu 25 Teilnehmende aufgestockt werden. Es ist nicht möglich, Kurse mit möglichst einheitlichen Lernvoraussetzungen anzubieten und sich auf spezielle Zielgruppen einzustellen. Das wiederum führt bei allen Teilnehmenden zu Demotivation und Frust, verringert das Niveau der Ausbildung und mindert deren Gesamtqualität.
Dringend notwendige Teilzeitsprachkurse für Geflüchtete, die neben dem Erlernen der Sprache bereits erwerbstätig sind, können kaum angeboten werden. Gerade dieser Personenkreis verspricht aber eine hohe Erfolgsquote und sollte dringend gefördert werden.
Auf der Basis der vorhandenen Möglichkeiten ist die Erwartung, nach 600 Unterrichtsstunden das Sprachniveau B1 zu erreichen, für einen großen Teil der Geflüchteten zu hoch gegriffen. Die Statistik gibt deutlich Auskunft:
Beim Spracherwerb kommt neben den beschriebenen Mangellagen hinzu, dass viele Geflüchtete kein adäquates Lernumfeld besitzen.(2) Hausarbeiten zu erledigen und konzentriertes Lernen in überfüllten Sammelunterkünften sind kaum machbar.
Im Betrachtungszeitraum ist ein Absinken der B1-Zertifizierung um fast 16 Prozent erfolgt. Der Rückgang von 2022 zum 1. Halbjahr 2023 um fast 12 Prozent ist auffällig.
Die Zahl der A2 Zertifizierungen ist im betrachteten Zeitraum von 22 auf 35,1 Prozent gestiegen. Der Anstieg 2022 zum 1. Halbjahr 2023 korrespondiert mit dem Absinken der B1 Zertifikate.
Dieser Umstand wird mehr und mehr zum Problem. Das Sprachniveau A2 reicht gerade aus, sich zu verständigen. Geflüchtete mit Niveau A2 sind in den allermeisten Fällen nur in der Lage, minderqualifizierte Helfertätigkeiten auszuüben. Um eine Lehrstelle im dualen Ausbildungssystem antreten zu können, ist formal das Niveau B1 notwendig. Vor allem im technisch orientierten Handwerk reicht dieses Niveau faktisch oftmals nicht aus. Im Pflege- oder im kaufmännischen Bereich ist mindestens das Sprachniveau B2 gefordert.
Der Rückgang bei den B1 Zertifikaten wirkt sich beim Einstieg der Geflüchteten in eine qualifizierte Berufsausbildung, die perspektivisch zur Fachkraft führt, erheblich aus. Ebenso wirkt der Rückgang auf eine nachhaltige Arbeitsmarktintegration über das Helferniveau hinaus und auf die Möglichkeiten der Weiterqualifizierung. Das Niveau A2 stärkt den Niedriglohnsektor mit all seinen Problemen und Herausforderungen.
Außerhalb der Zuständigkeit der Arbeitsverwaltung und des BAMF kommt beim Thema Spracherwerb erschwerend hinzu: für geflüchtete Kinder und Jugendliche können nicht immer ausreichend Kindergarten- und Schulplätze zur Verfügung gestellt werden, oder es müssen lange Wartezeiten in Kauf genommen werden. Sprach- und Lerndefizite in allen Fächern, die sich dadurch bei Kindern und Jugendlichen mit Fluchthintergrund ergeben, ziehen sich bis in die nächsten Ausbildungsphasen und erschweren die Integration sowie den Einstieg ins Berufsleben.
Wenn die Bundesregierung das Ziel verfolgen will, die vorhandenen inländischen Potenziale zu nutzen, um Fachkräfte zu entwickeln, dann muss beim Spracherwerb an einigen Stellschrauben justiert werden. Dies ist notwendig, um Geflüchtete schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Lösungsansatz „Job-Turbo“
Das Ziel des „Job-Turbos“, die zügige Eingliederung geflüchteter Menschen in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, ist abhängig vom qualifizierten Spracherwerb. Es ist notwendig, Wartezeiten für die Sprachkurse zu verringern und vermehrt digitale Möglichkeiten als Hilfen und Stützen anzubieten. Über die Auslagerung von Sprachkursen etwa an Unternehmen, die Interesse an der Gewinnung von Fachkräften haben, sollte nachgedacht werden. Der „Job-Turbo“ formuliert dazu die gemeinsamen Kraftanstrengungen und den Schulterschluss aller beteiligten Akteure. Wenn in der zweiten Phase des „Job-Turbos“ die berufsbegleitende Sprachförderung vorgesehen ist, dann ist es notwendig, den Spracherwerb flexibel zu gestalten.
Der geforderte frühzeitige Ausbildungs- und Berufseinstieg, die Gelegenheit zu Qualifizierung und Weiterentwicklung von Fachkräften und die damit verbundene Stabilisierung der Beschäftigung sind in der dritten Phase des „Job-Turbos“ die Ziele. Wenn die Flexibilität, die Kreativität und die Effektivität beim Spracherwerb fehlen, kann der „Job-Turbo“ seine Ziele nicht erreichen. Er kann für geflüchtete Menschen somit auch nicht entscheidend zur Verbesserung der Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt beitragen. Die Herausforderungen, die Integrationsprozesse durch parallel laufende Maßnahmen zu beschleunigen, sind anspruchsvoll und erfordern neues Denken und Handeln bei allen Beteiligten.
Bei aller notwendigen und gebotenen Erhöhung der Geschwindigkeit sollte aus Gründen der Qualität und der Nachhaltigkeit bei der Integration in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt das Prinzip: „Erst Integrations- und Sprachkurs, dann Arbeit“ beibehalten werden. Dieses Prinzip sorgt für die gesellschaftliche Teilhabe der Menschen, die zu uns gekommen sind, sowie dafür, dass die Aufstiegschancen dieser Menschen erhöht und damit prekäre Beschäftigungsbedingungen möglichst vermieden werden.
2 Stefanie Diemand: Wie Deutschland bei Deutschkursen für Flüchtlinge versagt, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23.04.2024, online.
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