Digitaltaugliches Recht - Das Baukastensystem für Rechtsbegriffe

Ein Beitrag von Kathleen Jennrich, Sekretariat des Nationalen Normenkontrollrates, Berlin

Kindergeld, Elterngeld oder Wohngeld beantragen – online und ohne Gang ins Amt. In Corona-Zeiten ist dies wichtiger denn je. Dafür sind rechtliche Vorgaben in Online-Formulare und IT-Verfahren umzusetzen. Was ist aber, wenn das Recht digitalen Verfahren im Wege steht? Dies wird offenkundig, wenn es eine rechtliche Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen im Amt gibt. Auch weniger offensichtliche Vorgaben erschweren die Digitalisierung von Normen. Der Artikel beschreibt, wie Recht über ein Baukastensystem digitaltauglich gestaltet werden kann und was dafür nötig ist. Er fragt auch: Brauchen wir ein Begriffsbestimmungsgesetz?

Digitalisierung des Verwaltungsvollzuges
Verwaltungsvollzug ist heute nur bedingt ohne digitale Unterstützung denkbar. Gesetze müssen daher so gestaltet sein, dass sie digital umsetzbar, d. h. digitaltauglich sind. Allerdings sind Gesetze bislang häufig auf ein Fachgebiet fokussiert, Rechtsbegriffe werden nicht rechtsgebiets- oder rechtsbereichsübergreifend einheitlich verwendet, Abhängigkeiten werden wenig berücksichtigt oder es werden gesetzliche Vorgaben unterschiedlich interpretiert. Für die Digitalisierung unseres Rechts gibt es somit zahlreiche Herausforderungen.


Verfahrensübergreifend uneinheitliche Einkommensbegriffe
Das Einkommen ist regelmäßig entscheidend, wenn es um die Frage geht, ob und inwieweit jemand für eine staatliche Leistung bedürftig ist oder wie leistungsfähig er ist, wenn Steuern zu zahlen sind. Was jedoch unter „dem Einkommen“ zu verstehen ist, ist von Verwaltungsleistung zu Verwaltungsleistung mitunter sehr unterschiedlich. So werden z. B. die zu zahlenden Vorsorgeaufwendungen oder Aufwendungen für den Unterhalt an getrenntlebende Ehegatten beim BAföG-Anspruch nicht berücksichtigt, jedoch regelmäßig das Einkommen der Eltern. Hat der Student nach seinem Studium Anspruch auf SGB II-Leistungen, werden die Vorsorgeaufwendungen, aber auch die Aufwendungen für den Unterhalt an getrennte Ehepartner anders als beim BAföG angerechnet. Nicht jedoch zwingend das Einkommen der Eltern, sondern das der Bedarfsgemeinschaft. Besonders tückisch ist, dass in den Formularen oftmals nur „das Einkommen“ abgefragt wird. Das erzeugt Unsicherheiten auf Seiten der Antragsteller, aber auch unnötige Nachfragen, Korrekturen und zusätzlichen Bearbeitungsaufwand auf Seiten der Behörde. Das ist für alle nervig und zeitaufwendig.


Registermodernisierung
Mit der Registermodernisierung strebt die Verwaltung einen einfachen und sicheren elektronischen Datenaustausch an.(1) Die Daten sollen laufen, nicht die Bürgerinnen und Bürger. Das Registermodernisierungsgesetz und das Unternehmensbasisdatenregistergesetz haben die Basis für den Austausch der zu einer Person oder zu einem Unternehmen vorhandenen Daten zwischen Behörden geschaffen.
Der digitale Datenaustausch hat Vorteile sowohl für die Verwaltung als auch für die Bürgerinnen und Bürger. So muss z. B. der Steuerpflichtige bei der vorausgefüllten Steuererklärung (2) seine für die Steuererklärung erforderlichen Daten (z. B. vom Arbeitgeber übermittelte Lohnsteuerbescheinigungen, Lohnersatzleistungen, Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung) z. T. nicht mehr zwingend selbst ins Formular eintragen. Auch die Verwaltung profitiert vom digitalen Datenaustausch. So normiert die Mitteilungsverordnung (3) verschiedenste Mitteilungsverfahren. Zum Beispiel kann die Finanzverwaltung durch die Daten anderer Behörden die Angaben der Steuerpflichtigen zu deren zu versteuerndem Einkommen validieren, so z. B. zu den Honoraren der Rundfunkanstalten für Leistungen ihrer freien Mitarbeiter (4) oder zu Ordnungsgeldern nach § 335 Handelsgesetzbuch (5).

Datenaustausch erfordert technische und semantische Interoperabilität
Wenn verschiedene Stellen unter dem vermeintlich gleichen Begriff des Einkommens Unterschied­liches verstehen, können Daten, die von einer Behörde erhoben, gespeichert und verarbeitet werden, von anderen Behörden verfahrensübergreifend (nach-)ge-nutzt werden? Bedarf es für den digitalen Datenaustausch sowohl einer technischen als auch einer semantischen Interoperabilität? Das Gutachten „Digitale Verwaltung braucht digital­taugliches Recht – Der modulare Einkommensbegriff“ (6) im Auftrag des Nationalen Normenkontrollrates geht insbesondere am Beispiel des Einkommensbegriffes dieser Frage nach.


„Eine Schachtel für alle Fälle“?
Die Diskussion zu uneinheitlichen Rechtsbegriffen ist nicht neu. Bereits 1995 thematisierte ein Gutachten zum „Einkommensbezogenen Sozialleistungsrecht“ (7) den uneinheitlichen Einkommensbegriff. Es kam zum Ergebnis, dass mit wenigen „Ausnahmen […] kein Einkommensbegriff dem anderen [entspricht, aber] für sehr ähnliche Funktio­nen ganz eigenständige Programme normiert [sind].“ (8) Den Einkommensbegriff über alle Rechtsgebiete hinweg gleich zu definieren, geht aus verfassungsrechtlichen Gründen, aber auch wegen der unterschiedlichen Sachmaterien nicht.(9) „Eine Schachtel für alle Fälle“ ist nicht die Lösung. Sie ist aber auch nicht nötig.


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Bild: Fotolia / vege


1 IT-Planungsrat: Registermodernisierung, online: https://www.it-planungsrat.de/projekte/projekte-des-it-planungsrat/registermodernisierung (abgerufen am 26.07.2021).
2 Bayerisches Landesamt für Steuern: Vorausgefüllte Steuererklärung (Privatpersonen), online: https://www.elster.de/elsterweb/infoseite/belegabruf_(privatpersonen), (abgerufen am 26.07.2021).
3 Verordnung über Mitteilungen an die Finanzbehörden durch andere Behörden und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten (Mitteilungsverordnung) vom 7. September 1993 (BGBl. I S. 1554), die zuletzt durch Artikel 2 der Verordnung vom 12. Januar 2021 (BGBl. I S. 67) geändert worden ist.
4 § 3 Mitteilungsverordnung.
5 § 4a Mitteilungsverordnung.
6 Nationaler Normenkontrollrat (Hg.): Digitale Verwaltung braucht digitaltaugliches Recht. Der modulare Einkommensbegriff, Berlin 2021, online: https://bit.ly/3yiQUmU (PDF-Datei, 12,3 MB; abgerufen am 02.08.2021).
7 Ingwer Ebsen: Einkommensbezogenes Sozialleistungsrecht, Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Forschungsbericht Nr. 256, Bonn 1996.
8 Ebd.
9 Im Ergebnis vgl. auch ebd., S. 13 Rz 49.