Wir sind seit Jahren Augenzeugen eines radikalen Wandels unserer Lebens- und Arbeitswelt. Bewirkt wird dieser Wandel durch die Digitalisierung. Dieses Konzept steht einmal für neue Formen des Arbeitens in digital vernetzten Strukturen, sodann aber auch für die Kooperation zwischen offenen Organisationen, die über Informationssysteme verbunden sind und die Etablierung neuartiger Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten ermöglichen. Zentrale Bedeutung kommt dabei dem elektronischen Informationsaustausch zu, der nicht nur zwischen Menschen im privaten und organisatorischen Umfeld, sondern auch und vermehrt zwischen Menschen und technischen Aggregaten sowie unabhängig von Menschen zwischen Objekten und Maschinen erfolgt. Das „klassische“ Internet und das neue Internet der Dinge machen es möglich.
Digitalisierung als Megatrend
Megatrends sind „Blockbuster des Wandels“ bzw. tiefe, nachhaltige Strömungen, die alle Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens erfassen (vgl. Naisbitt, 1982). Auch die Digitalisierung beschreibt einen solchen Megatrend.
Führungskräfte aus Unternehmen vertreten oftmals die Auffassung, dass alles, was digitalisierbar ist, auch digitalisiert werden wird, weil auf diese Wese Effizienzgewinne möglich sind. Das betrifft alle Arbeitsbereiche. Betroffen sind also nicht allein industrielle Produktionsprozesse, wie es die immer wiederkehrende Gleichsetzung mit Industrie 4.0 nahelegt. Ansatzpunkt ist folglich auch nicht nur körperliche Arbeit. Betroffen sind zukünftig vielmehr auch vielfältige Arbeitsprozesse in den Verwaltungen und im Dienstleistungssektor, die vornehmlich durch Orientierung an einfachen Regeln sowie durch Routine geprägt sind. Selbst Pflegeprozesse in Krankenhäusern oder Einrichtungen der Altenpflege mit hohen Anteilen an interaktiver Arbeit werden sich unter dem Einfluss der Digitalisierung verändern. Serviceroboter werden gerade in diesen Bereich verstärkt zum Einsatz kommen. Selbst die auf jahrelanger Ausbildung basierende ärztliche Tätigkeit bleibt nicht ausgespart. Digitalisierung betrifft alle Berufssparten – wenn auch in ganz unterschiedlichem Maße.
Pessimisten sehen in dieser nicht mehr aufzuhaltenden Entwicklung eine Entwertung und Vernichtung von Qualifikationen, menschlicher Arbeit und ganzen Berufssparten. Wo viel repetitive Routinetätigkeit körperlicher oder kognitiver Natur ausgeübt wird, werden die Verluste am höchsten sein (vgl. Frey & Osborne, 2013). Was dabei viele Menschen im Verwaltungs- und Dienstleistungsbereich überrascht und erschreckt: Viele ihrer Arbeitstätigkeiten sind auch repetitiver Art, sind an einfache Entscheidungsstrukturen gebunden, können von daher routineartig erledigt und deshalb letztlich auch automatisiert werden. Sie folgen einer einfachen Abfolge von logischen Schritten, die auch von technischen Systemen beherrscht, meist sogar schneller und weniger fehlerbehaftet bewältigt werden. Diese Erkenntnis ist in dieser Klarheit und Konsequenz für viele bürokratische Organisationen neu und erzeugt Ängste. Dass in Österreich der neu beantragte Pass in kürzester Zeit bereit liegt oder in Dänemark die Steuererklärung in wenigen Minuten erfolgen kann, hängt eng damit zusammen, wie Information bearbeitet wird. Wo viele Medienbrüche im Spiel sind, braucht es sehr viel, eher sogar zu viel Zeit.
Optimisten hingegen verweisen darauf, dass die Digitalisierung wie viele technische Entwicklungen zuvor neue Arbeitsfelder und Arbeitsplätze schaffen wird. Dies gilt insbesondere, aber nicht nur für den Bereich der Informatik, der bislang in vielen Organisationen zwar als eine Art dienstleistende Stützfunktion begriffen wird, aber in dieser Funktion auch nicht nur Anerkennung findet. Viele Arbeitsplätze werden durch Digitalisierung eine bereichernde Veränderung erfahren. Durch den umfassenden Zugang zu Information werden sich die organisationsinternen Strukturen aber ebenso verändern wie die vielfältigen informatorischen Beziehungen zu externen Kooperationspartnern, seien dies Unternehmen, Behörden, Plattformen, Lieferanten, Kunden, Patienten oder Bürger.
Vernetzung ist entscheidend
Gerade die Vernetzung über die Organisationsgrenzen hinaus steht im Zentrum aller Digitalisierung, nicht so sehr die Vernetzung innerhalb der Organisation (die leider häufig genug auch schon am Kästchendenken oder an unüberwindbaren Silogrenzen scheitert). Wenn Organisationen durch Informationsaustausch ihre Grenzen durchlässiger machen, werden die horizontalen, internen und externen Kooperationsbeziehungen in den Vordergrund treten, während die traditionell vertikalen Steuerungs- und Führungsbeziehungen an Bedeutung verlieren. Viele Formen der kooperativen Arbeit werden dann um Interaktions- und Flexibilisierungskomponenten angereichert, wodurch Arbeit abwechslungsreicher und autonomer gestaltet werden kann. Auch die traditionell gegebene Präsenz aller Beschäftigten während der Arbeitszeit in der Organisation wird obsolet: Flexible und mobile Arbeit ermöglicht mehr Zeit- und Ortssouveränität und erlaubt eine höhere Vereinbarkeit von Arbeit und Freizeit.
Durch Digitalisierung verändert sich also nicht nur die Technik am Arbeitsplatz. Digitalisierung bedeutet nicht, ein technisches Werkzeug durch ein anderes zu ersetzen. Industrie 4.0 lässt sich nicht auf die Einführung einer neuen Generation von Hard- und Software, leistungsfähigeren Rechnern oder Robotern reduzieren. Genauso wenig bedeutet Verwaltung 4.0 nur, dass bestehende analoge Verfahren z.B. der Steuererklärung auf digitale Verfahren umgestellt werden. Digitalisierung bedeutet mehr, als eine neue Technik einzuführen. Digitalisierung impliziert vor allem eine umfassende Vernetzung von individuellen und organisationalen Akteuren, die über offene Grenzen in einen umfassenden horizontalen Informationsaustausch einbezogen sind. Um Digitalisierungsgewinne erzielen zu können, werden Vorgehensweisen und ihre gesetzlichen Grundlagen zu überprüfen und zu vereinfachen sein. Dies erfordert neben Standardisierung, Entbürokratisierung und Überprüfung der Digitaltauglichkeit auch erhebliche arbeitsorganisatorische Veränderungen, wenn etwa Verfahren im Zuge der Digitalisierung vereinfacht werden, Bürgerdaten in einer einzigen Datenbank abgelegt oder Entscheidungsbefugnisse ganz neu verteilt werden. Bislang wurden Organisationen als geschlossene Systeme betrachtet. Mit der Digitalisierung rücken nun aber die Offenheit der Grenzen, die Flexibilität der Prozesse und die horizontale Kooperation in koordinierten Partnerschaften viel stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung. Dieser Perspektivenwechsel – man könnte auch von einem Wechsel des Mindsets oder einem Paradigmenwechsel sprechen – bestätigt den radikalen Wandel, der in unserer Umwelt praktisch bereits massiv um sich greift. Er wird, wie im Marketing üblich, gern aufbauschend mit dem Etikett „revolutionär“ verknüpft und mit dem empirischen Verweis auf disruptive Geschäftsmodelle ausgemalt (vgl. Osterwalder & Pigneur, 2011). Die Botschaft dahinter: Die Welt ändert sich und es wird Zeit, auf den Zug aufzuspringen und Produkte und Prozesse neu zu gestalten. Dies gilt ganz besonders für den Bereich des E-Government, wo die sogenannte digitale Reife noch als ausbaufähig gilt. Hier braucht es Bewegung. Es wird keine Insel geben, auf die man sich zurückziehen kann.
Der Verweis auf moderne Geschäftsmodelle verdeutlicht, dass die Beziehung von Verwaltungen untereinander sowie von Verwaltungen zu Bürgern und Unternehmen sich wandeln. Die Einrichtung von regionalen Bürgerportalen oder gar eines zentralen Portalverbundes, in dem alle von Verwaltungen erfassten Daten zusammengeführt und transparent gemacht werden, signalisiert nicht nur Öffnung, sondern auch Vereinfachung und Kundenorientierung. Der Bürger weiß zukünftig, welche Daten über ihn in einem Bürgerkonto gesammelt werden, und er braucht dann nur noch einmal – und nicht bei jedem Kontakt neu – seine Stammdaten zu hinterlegen (once-only-Prinzip). Auf diese Stammdaten haben infolge einer umfassenden Vernetzung dann alle relevanten Verwaltungseinrichtungen wie die Sozialversicherungen und die Krankenkassen Zugriff, sofern der Bürger dem explizit durch ein Signal in Form eines Häkchens zustimmt (man spricht von einer sogenannten Opt-in-Lösung). Diese Portale bedürfen einerseits der zu organisierenden Pflege, sie deuten aber auch bereits vielfältige aktive Möglichkeiten der verbesserten Dienstleistung seitens der Verwaltungen an (z.B. werden Bürger bei Anmeldung der Geburt eines Kindes auf damit zusammenhängende weitere Optionen verwiesen). Vergleichbar können Gewerbe entlastet werden, wenn Antrags-, Genehmigungs- und Besteuerungsverfahren in einem internen Verfahren über Ämtergrenzen geregelt werden (dafür steht das Konzept des sogenannten One-Stop-Shop). Diese Neuorientierung wird auch zu weiteren Überlegungen darüber führen, wie die vorliegenden Datenmengen zu weiteren Dienstleistungen für Bürger und Unternehmen genutzt werden können (Stichworte sind hier Open Data, Big Data und Predictive Analytics). Um über solche Portale zu einem attraktiven Dienstleister zu werden, bedarf es nicht nur einer optimalen Infrastruktur, sondern auch der Entwicklung möglichst einheitlicher Standards, um überhaupt Informationsaustausch über Organisationsgrenzen hinweg betreiben zu können. Geschlossene Systeme stellen oftmals enorme Hindernisse für die unerlässliche Interoperabilität dar.
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Text: Professor Dr. Manfred Bornewasser Universität Greifswald / Leiter AWV-AK 1.7
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